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Verlauf der Zensur der chinesischen Wikipedia in den 2010er Jahren in Bildern

Informationsfreiheit durch Zugangssperrung?

Analysen chinesischer Zensurpraxis konzentrieren sich allzu gern auf die Situation der etablierten Medien in der Volksrepublik China (VRC) und behandeln soziale Medien bestenfalls beiläufig.1 Dieses Projekt widmet sich daher einem Medium, das bisher nur zögerlich als Quelle historiographischer Analysen in Betracht gezogen wird.2 Im Folgenden soll die Zensurpraxis der VRC innerhalb partizipatorischer Medien am Beispiel der chinesischen Sprachversion der Wikipedia diskutiert werden. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf die Verwendung von Fotografien und anderen Bildern in ausgewählten Artikeln.3 Es gilt dabei zu untersuchen, inwiefern sich die Zensurpraxis auf die Auswahl der Bilder auswirkte und welche Methoden dazu voraussichtlich zum Einsatz kamen. Grundlage der Auswahl der Artikel und Bilder ist hierbei der Begriff der sensiblen Inhalte. Diese definieren sich darüber, dass sie grundsätzlich dazu geeignet sind, die soziale Stabilität des Landes zu gefährden.4 Die verschiedenen Ausprägungen dieser Inhalte werden zusammen mit verschiedenen Aspekten der chinesischen Internetzensur im Folgenden diskutiert.


“Defacement of Mao Zedong’s Portrait on the Tiananmen (1989)”, 23.05.1989. Online: zh.wikipedia.org, Urheber: unbekannt, Stand: 14.02.2020.

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Tiananmen Zwischenfall”]

Das Foto zeigt das sogenannte Tor des Himmlischen Friedens in Frontalaufnahme. Zu den Seiten des Tores stehen Menschen Spalier, einige blicken in Richtung Kamera, andere sind der Tormitte zugewandt. Im Tor selbst steht eine Menschenmenge, wobei die vordersten Personen Flaggen und ein Transparent tragen. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Demonstrationszug, der sich bis in den Bildhintergrund erstreckt. Über dem Tor und der Menschenmenge hängt das Portrait Mao Zedongs, auf dem verschiedenfarbige Flecken zu erkennen sind. Es handelt sich hierbei offenkundig um eine Form der Verunstaltung. Zwar ist der Umgang der chinesischen Öffentlichkeit und Führung mit dem Andenken Maos keinesfalls einheitlich, doch werden öffentliche Respektlosigkeiten wie diese klar als Angriff auf die Kommunistische Partei Chinas (KPC) selbst gewertet.5 Die Gegenüberstellung des verunstalteten Portraits mit der demonstrierenden Menschengruppe, unter völliger Abwesenheit von Ordnungskräften, impliziert zudem eine öffentliche Akzeptanz der Tat. Das Foto kann somit als Symbol der Erosion der sozialen Stabilität verstanden werden - einem Eckpfeiler der KPC-Herrschaft.

Sowohl der Artikel zum Tiananmen Zwischenfall6, als auch das Digitalisat des Fotos sind seit 2007 online.7 Trotz dieser potentiellen Verfügbarkeit und einer geeigneten Plattform wurde das Foto jedoch erst am 01. März 2015 in den Artikel aufgenommen. Diese Verzögerung erklärt sich wahrscheinlich durch die gelebte Zensurpraxis, die vermutlich erst mit der Sperrung der chinesischen Wikipedia für chinesische User gegen Jahresbeginn 2015 endete. Die Sperrung beliebiger Internetseiten in China kann über das Portal von greatfire.org geprüft werden, wobei Abfragen protokolliert und anschließend in einer Kalenderansicht veröffentlicht werden. Mit Hilfe dieser Darstellung lässt sich leicht nachvollziehen, dass die chinesische Wikipedia (zh.wikipedia.org) bis Ende 2014 von China aus erreichbar war.8 Vor 2015 war es chinesischen Bürgern somit nicht nur möglich, auf das freie und von Freiwilligen gepflegte Lexikon Wikipedia zuzugreifen, sondern sie konnten diese aktiv mitgestalten. Dies schließt jedoch auch die Bekämpfung unliebsamer, sensibler Inhalte mit ein. Mit der geänderten Nutzerbasis haben sich somit vermutlich auch die Ansprüche an die Inhalte der Wikipedia verändert. Zuvor Zensiertes konnte nun veröffentlicht werden - aus der Zugangssperrung erwuchs Informationsfreiheit. Um die hier wirkenden Mechanismen zu verstehen, müssen wir uns jedoch zunächst mit dem Fundament der chinesischen Internetzensur auseinandersetzen.


Technische Zensur - Demokratische Partei Chinas

Die Grundlage der Kontrolle des Internets in der VRC bildet die Filterung des Datenverkehrs. Die Blockade internationaler Internetangebote durch die sogenannte Great Firewall of China ist hierbei häufig der Gegenstand internationaler Berichterstattung und Kritik, jedoch ist die Filterinfrastruktur der VRC keineswegs nur auf die Blockade ausländischer Angebote ausgerichtet. Vielmehr verfolgt sie das Ziel, sensible Inhalte möglichst effektiv zu kontrollieren. Das dafür zuständige Projekt trägt den Namen Goldener Schild und ist seit 2006 landesweit im Einsatz. Goldener Schild arbeitet nach Goldenstein auf vier Ebenen: Die erste Ebene bildet die Kontrolle von DNS-Anfragen. Da sämtliche Anfragen im Internet zwar über IP-Adressen verschickt werden, diese aber im alltäglichen Umgang unpraktisch sind, übersetzen Domain Name Server für uns lesbare URL-Adressen in technisch notwendige IP-Adressen. Durch eine Filterung auf DNS-Ebene können nun Anfragen auf bestimmte URLs blockiert oder zu einer anderen Seite umgeleitet werden. Die zweite Ebene besteht aus einem IP-Adressfilter. Mit diesem können bestimmte Dienste direkt blockiert werden, sodass diese auch dann nicht erreicht werden, wenn der DNS-Filter umgangen wurde. Um auch Adressen filtern zu können, die aktuell noch unbekannt sind, weist die dritte Ebene eine URL-Kennwort-Suche auf. Somit reicht es bereits aus, dass sich in einer ansonsten unbekannten URL bestimmte Kennwörter befinden. In der vierten Ebene werden die Webseiteninhalte selbst kontrolliert. Dazu werden Webseiten in Gänze gespiegelt, man spricht hier vom mirroring, und anschließend auf verdächtige Inhalte bzw. Kennwörter untersucht. Dadurch können die Sperrlisten der Ebenen eins und zwei automatisiert ergänzt werden.9 Das folgende Beispiel illustriert den Erfolg derartiger Filtertechniken.

China democracy party

“China democracy party”, 04.06.2008. Online: commons.wikimedia.org, Urheber: CDP2006 (CC-BY SA), Stand: 18.02.2020.

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Demokratische Partei Chinas”.]

Das Foto zeigt eine größere Gruppe Personen in uniformierter Kleidung, die sich entweder im Vordergrund sitzend oder im Hintergrund stehend für das Foto aufgereiht haben. Die sitzenden Personen in der Mitte halten ein Banner mit der Aufschrift 中国民主党美国总部 China Democracy Party USA Headquarters. Weiterhin sind auf dem Banner die Ideale der Partei aufgezählt, identifizierbar sind: 民主 Democracy, 自由 Freedom und 人权 Human rights. Mehrere Personen halten Flaggen, zumeist die amerikanische Flagge, in die Höhe oder vor dem Körper. Im Hintergrund ist deutlich die Kuppel des Kapitols in Washington zu erkennen. In der unteren rechten Ecke ist der Name der Partei sowie das Parteiemblem abgebildet, welches an das Hoheitszeichen der Republik China erinnert. In der linken unteren Ecke sind die Kontaktdaten der Partei abgebildet. Die förmliche Überladung mit US-amerikanischen Symbolen, vom Kapitol über die Flaggen bis hin zum blau-weiß-roten Farbschema der Kleidung und Banner, zeugt von der politischen wie philosophischen Nähe zu den USA, zumindest in der Außendarstellung. Die Demokratische Partei Chinas gilt in der VRC als verbotene Partei, weshalb mit ihr assoziierte Seiten regelmäßig blockiert werden.10

Bemerkenswert ist, dass dieses Foto seit 10. Dezember 2012 durchgängig fester Bestandteil des Artikels zur Demokratischen Partei Chinas ist. Es ist daraus zu schlussfolgern, dass dieser Artikel im chinesischen Internet aus technischen Gründen nicht erreichbar war, da sonst das Bild mit ziemlicher Sicherheit gelöscht worden wäre. Eine solche partielle Filterung bedeutet, dass die chinesische Wikipedia selbst vor 2015 durchaus für Nutzer in China zugänglich war, jedoch einzelne Artikel geblockt wurden. Für die hier zu beobachtende Filterung kommen nach dem o.g. Modell insbesondere die Ebenen eins und drei in Frage. Sowohl das Foto, als auch der zugehörige Artikel tragen die Kennworte china, democracy und partyin ihrer URL. Sofern dieser Artikel also nicht bereits selbst auf einer Sperrliste steht, würde die Prüfung der URL auf Kennworte den Artikel oder das Foto sicher als sensiblen Inhalt erkennen. Nur durch die Einschränkung des Zugriffs auf den Artikel konnte das Foto prä 2015 also Teil des Artikels bleiben, da es so einer Selbstzensur vorenthalten wurde.


Selbstzensur - Falun Gong

Nach Goldenstein ist die Selbstzensur als der zweite zentrale Baustein der Internetzensurmechanismen zu verstehen. Um diese zu fördern, arbeitet das Ministry of Industry and Information Technology (MIIT) vor allem mit Abschreckung und Aufklärung der Nutzer. Um die Sensibilität der Öffentlichkeit für verbotene Inhalte zu schärfen, bietet das MIIT Informationsseiten an, auf denen man sich sowohl zu Gesetzen und Regelungen informieren, als auch praktische Fallbeispiele studieren kann. Zudem werden bei der Suche nach verbotenen Begriffen die Maskottchen der Internetpolizei, die Comic-Cyber-Polizisten Chacha und Jingjing, eingeblendet, die auf das Fehlverhalten hinweisen. Stets parteikonform verhalten sich hingegen die sogenannten 50-Cent-Blogger, die gegen geringe Aufwandsentschädigung in den Kommentarspalten von Nachrichtenseiten sowie auf Web-2.0-Plattformen regimetreue Nachrichten verbreiten. Schließlich bieten die Informationsseiten zum sauberen Internet auch stets die Möglichkeit, potentielle Verstöße direkt zu melden. Aus dieser Einbindung der Öffentlichkeit in den Zensurapparat ergibt sich eine Art digitales Panoptikum, in dem sich die Betroffenen sowohl selbst als auch gegenseitig zensieren.11 Als Beispiel für dieses System soll die verbotene Gruppierung Falun Gong dienen.12

Falun Gong group practice in the city of Shuangcheng, Heilongjiang province, China, 1999.

“Falun Gong Shuangcheng practice 1”, 1999. Online: commons.wikimedia.org, Urheber: minghui.org, Stand: 14.02.2020.

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Falun Gong”]

Der Bildvordergrund wird von einem gelben Transparent mit roter Aufschrift beherrscht. Es trägt das Logo der religiösen Bewegung Falun Gong und trennt einen im Vordergrund verlaufenden Weg von einem großen Platz, der von Hochhäusern gerahmt wird und in dessen Mitte ein Gebäude mit traditionell anmutendem Baustil steht. Auf dem Boden vor und neben dem Transparent stehen beschriebene Tafeln. Mittig vor dem Banner befinden sich zwei Fußgänger, von denen eine Person mit Fahrrad dem Platz zugewandt ist, die andere Person blickt hingegen die Straße entlang. Auf dem Platz stehen Menschen ordentlich aufgereiht mit etwa einem Schritt Abstand mit ähnlichen Körperhaltungen, die Arme vor sich ausgestreckt. Zwischen den Reihen liegen vereinzelt Kleidungsstücke oder Taschen auf dem Boden. Die Erste Reihe hinter dem Transparent bildet eine Gruppe aus Kindern. Zu beiden Seiten des Platzes verlaufen Straßen, auf denen sich Personen und Fahrzeuge befinden. Das Foto weist insbesondere beidseitig der Bildmitte einige Fehlerstellen in Form von schwarzen Flecken auf. Die Farben wirken übersättigt und die horizontale Bildachse ist außermittig. Es handelt sich also um einen Bildausschnitt, das ursprüngliche Bild war offenbar stärker auf das Transparent ausgerichtet, und wurde vor oder nach der Retrodigitalisierung bearbeitet.

Falun Gong ist eine religiöse Bewegung auf Basis taoistischer und buddhistischer Prinzipien, deren Kern meditative Übungen sind. Nach Tang war Falun Gong insbesondere deshalb für Chinesen interessant, da es im Kommunismus nach Mao an spirituellen Angeboten mangelte.13 Das Foto zeigt die öffentliche Durchführung einer solchen Übung in Shuangcheng im Jahr 1999. Durch die gleichgültigen bis interessierten Reaktionen der den Platz umgebenden Menschen, sowie die Ausübung auf einem so öffentlichen Platz inmitten einer Siedlung, wird eine öffentliche Akzeptanz vermittelt. Zur Zeit der Aufnahme überschritt Falun Gong in der Bewertung durch die KPC eine kritische Masse an Praktizierenden und sollte fortan nur noch als schädlicher Kult diskutiert werden.14 Infolgedessen wurde Falun Gong, ebenso wie andere verbotene Gruppierungen, Gegenstand der Zensurbestrebungen.15 In den Wikimedia Commons ist das Foto seit 04. März 2007 verfügbar, jedoch wurde es erst ab 22. Dezember 2014, der Übergangszeit der Sperrung, in der chinesischen Wikipedia verwendet. Dass dieses Foto erst nach der Sperrung der chinesischen Wikipedia benutzt wurde, obwohl es als Digitalisat jederzeit zur Verfügung stand, sollte als starkes Indiz für die Wirksamkeit der Selbstzensur verstanden werden. Da ein anonymes Ändern des Artikels durch weitreichende Kontrollvorschriften für die meisten User ausgeschlossen ist, beweist sich die Abschreckungsstrategie als überaus effektiv.


Im Ringen um den richtigen Umgang - Tiananmen

Die Auswirkungen der partizipatorischen Selbstzensur lassen sich in der Versionsgeschichte eines Artikels besonders gut an wiederholt gelöschten Bildern beobachten. Üblicherweise weist das wiederholte Löschen und Hinzufügen einzelner Artikelteile auf einen Dissens in der Community hin, wobei im vorliegenden Fall der Umgang mit dem international bekannten Vorfall auf dem Tiananmenplatz 1989 ausgehandelt wird. Gemäß Becker unterliegen Inhalte, die sich mit diesem Vorfall beschäftigen, regelmäßig der Zensur. Begriffe wie Tiananmen-Massaker oder die gebräuchliche Kennung sechs-vier werden dabei mit hoher Wahrscheinlich geblockt, während das Vorgehen bei unverfänglicheren Begriffen weniger klar ist. Zur Abgrenzung zum touristisch hoch frequentierten Platz wird dann üblicherweise auf Protestkommentare, Jahrestage und direkte Vorwürfe geachtet - sofern möglich.16 Einen derartigen Fall stellt auch das Foto Tank Man dar.

Tiananmensquare.jpg

“Tiananmensquare”, 05.06.1989. Online: zh.wikipedia.org, Urheber: Jeff Widener für AP, Stand: 25.02.2020.

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Tiananmen Zwischenfall”]

Diese von Jeff Widener aufgenommene Version des Tank Man Fotos zeigt einen einzelnen Mann, der sich vier Panzern in den Weg stellt. Im Gegensatz zur üblichen Bezeichnung Tank Man trägt dieses Digitalisat den Titel Tiananmensquare, ist nur in einer geringen Auflösung verfügbar und folgt den Fair Use Prinzipien der Wikipedia. Die Bildmitte ist auf den Turm des zweiten Panzers ausgerichtet, sodass der als Tank Man berühmt gewordene Mann sich in der linken unteren Ecke des Bildes befindet. Von der Umgebung ist nur zu erkennen, dass die Panzer sich auf ein vielspurigen Straße befinden. Die Straßenlaterne am unteren Bildrand lässt darauf schließen, dass das Foto von einer stark erhöhten Position aufgenommen wurde. Das in diesem Foto so eindrucksvoll festgehaltene Aufbegehren der Zivilgesellschaft beeinflusste die Politik der KPC nachhaltig. So galt Tiananmen fortan als drohender Kipppunkt der kommunistischen Herrschaft in China.17

Das Foto ist seit spätestens 29. April 2011 in der chinesischen Wikipedia verfügbar, wurde jedoch bereits ab 2007 wiederholt im Artikel referenziert.18 Zwischen 2007 und 2014 ist das Bild in insgesamt zehn teils überlappenden Zeiträumen Bestandteil des Artikels. Die Länge der Zeiträume variiert dabei von wenigen Tagen bis hin zu fast zwei Jahren.19 Ein Erklärungsansatz ist, dass das Foto stets während anlassbezogener Sperrungen der Wikipedia von Nutzern außerhalb Chinas eingefügt wurde. Dieser Ansatz würde den Zeitraum ab dem 04. Juni 2009 erklären, dem 20. Jahrestag des Tiananmen Zwischenfalls, jedoch sind die restlichen Zeiträume zu unregelmäßig verteilt und zu lang, als dass temporäre Sperrungen eine überzeugende Erklärung bieten könnten. Zudem wäre es dann ebenfalls zu erwarten, dass das zuvor diskutierte Bild Defacement of Mao Zedong’s Portrait on the Tiananmen (1989) bereits früher im Artikel erschienen wäre, da die soziale Kontrolle während dieser Phase nicht greifen konnte. Auch eine technische Filterung ist eher unwahrscheinlich, da die im Dateinamen verwendeten Begriffe tiananmen und square zu allgemein gehalten sind, um eine sinnvolle Erkennung als sensibler Inhalt zu gewährleisten. Zudem wäre dann zu erwarten, dass eine solche Lösung das Foto vollständig blocken würde. Wahrscheinlicher ist also, dass dieser wechselhafte Umgang mit diesem international berühmten Foto ein Ausdruck des schwierigen und wandelbaren Umgangs der KPC sowie der Zivilgesellschaft mit diesem Thema ist.


Digitale Ausläufer lokaler Proteste - Tibet und Xinjian

In den Artikeln zu den Autonomen Regionen Tibet und Xinjian lässt sich derweil beobachten, dass die Darstellungen in der Wikipedia keinen ausschließlich retrospektiven Charakter haben, sondern auch zu einem Teil des historischen Geschehens werden können. In diesen, häufig durch Unruhen auffallenden,20 Regionen finden wir Belege für die Ausweitung lokaler Proteste auf digitale Aktionsformen. Hierbei versuchten die Akteure, Nationalflaggen als Symbol der Unabhängigkeit von der VRC in den entsprechenden Artikeln zu platzieren.

Tibet

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Autonomes Gebiet Tibet”]

Der völkerrechtliche Status Tibets ist als umstritten zu betrachten, da sich die tibetische Exilregierung seit den 1950er Jahren für die Unabhängigkeit Tibets einsetzt, während die VRC seit 1951 den Kontrollanspruch über diese Region hält und sie 1965 als Autonome Region Tibet in die Volksrepublik aufgenommen hat. Trotz der stets postulierten Berücksichtigung der besonderen lokalen Gegebenheiten kam es in den 1980er Jahren sowie ab März 2008 vermehrt zu Demonstrationen für die Unabhängigkeit Tibets. Zentrale Themen dieses Konflikts sind eine mögliche Benachteiligung junger Tibeter gegenüber der angesiedelten Han-Chinesen sowie die Furcht eines weiteren Autonomieverlustes durch die direkte Anbindung an Peking durch die Qinghai-Bahn.21

Ausschließlich zwischen März und August 2008 finden sich nun einzelne Versionen des Artikels zum Autonomen Gebiet Tibet, in denen Abbildungen der tibetischen Flagge verlinkt wurden, welche als Unabhängigkeitssymbol verstanden werden muss. Diese vier Versionen wurden jeweils von anonymen Benutzern angelegt, von denen folglich nur die IP-Adresse gespeichert wurde. Dass die verwendeten IP-Adressen nach heutiger Auflösung in Polen adressiert wurden, deutet auf die Verwendung eines Virtual Private Network (VPN) oder Proxys zur Maskierung der eigenen Identität hin.22

Xinjian

[Zur Bildquellenauswertung des Artikels “Autonomes Gebiet Xinjian”]

Das neue Grenzgebiet Xinjian ist für die VRC insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen von großer Bedeutung. Mit den Vorkommen an Erdöl, Erdgas und Kohle ist es für die nationale Wirtschaft wertvoll, während die geografische Lage es als internationaler Handelsplatz interessant macht. Seit den 1950er Jahren verfolgt die KPC dort eine intensive Ansiedlung von Han-Chinesen, sodass deren Zahl mittlerweile in etwa der der größten lokalen Minderheit entspricht, der Uiguren. Neben den Uiguren gibt es noch weitere, häufig ebenfalls muslimische Minderheiten in Xinjian. Sie alle eint das ständige Konfliktthema der Benachteiligung gegenüber den angesiedelten Han-Chinesen. Trotz einer intensiven und direkten Förderung von Angehörigen von Minderheiten seien die Uiguren im Alltag häufig schlechter gestellt, was sich zum Beispiel in einer mangelnden Gewinnbeteiligung der Bevölkerung an der Nutzung der lokalen Ressourcen äußere. Entsprechend wird Xinjian seitens der KPC als Problemregion gesehen, was sich auch in Separationsbestrebungen hin zu einem geeinten Ostturkmenistan mit den angrenzenden Turkstaaten äußert. Insbesondere in den 1980er Jahren sowie 2009 schlug dieser anhaltende Konflikt in eine offene Konfrontation aus. 23 In Folge der Ausschreitungen in Urumqi, der Hauptstadt des Autonomen Gebietes Xinjiang, im Juli 2009 kam es zur Eskalation und zum Einschreiten der Polizei. Um die Verbreitung von Nachrichten sowie Gerüchten zu unterbinden, wurde ab dem 08. Juli der Zugang zu Mobilfunk und Internet gesperrt, später der Zugang zu Social Media landesweit unterbunden. Erst ab dem 28. Juli wurden zunächst als wirtschaftlich relevant eingestufte Online-Dienste wieder zur Verfügung gestellt, anschließend wurden auch andere Internetangebote wieder freigegeben. 24

Seit dem 16. Juli 2009, also nach Beginn der Internetsperre, wurde ein Bild der Kokbayraq-Flagge, einem Symbol der Unabhängigkeitsbewegung Ostturkmenistans, dem Artikel zum Autonomen Gebiet Xinjian hinzugefügt. Die verantwortliche Person identifiziert sich auf ihrer User-Seite als aus Nordamerika stammend und spricht sich unter Anderem für ein unabhängiges Ostturkmenistan aus. Gelöscht wurde das Bild erst am 29. Juli 2009, also kurze Zeit nach der Lockerung der Internetsperrung, von einem User mit chinesischer IP-Adresse.25

Diese beiden Beispiele zeigen anschaulich sowohl die Effektivität der sozialen Zensur, als auch ihre Grenzen. Die Bilder der Tibetischen Flagge wurden jeweils schon kurz nach Veröffentlichung wieder gelöscht und nach nur vier Versuchen wurde dieses Unterfangen ganz eingestellt - die gegenseitige Zensur funktionierte. Die Kokbayraq-Flagge hingegen war vermutlich nur deshalb über 14 Tage hinweg unangefochten Bestandteil des Artikels, weil die potentiellen Zensoren selbst vom Zugriff auf den Artikel abgehalten wurden. In Anbetracht der beteiligten User liegt es nahe, dass der tibetische Vorfall von chinesischen Bürgern, der Vorfall in Xinjian hingegen von Usern außerhalb Chinas initiiert wurde. Das Ringen um Deutungshoheit ist in diesem Fall also auch ein transnationales Phänomen. Zudem verdeutlicht es, dass sich soziale Unruhen und Protest auf der Straße in Zeiten des allgegenwärtigen Internets natürlich auch auf die digitale Sphäre ausweiten und Wikipediaartikel somit Teil historischer Prozesse werden können.


Fazit

Die Effizienz des chinesische Zensursystem basiert zu einem gewissen Teil auf dem Zusammenspiel technischer Filtermethoden mit einer durch Abschreckungsmaßnahmen etablierten Selbstzensur. Während beide Systeme der selben Intention folgen, der Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität des Landes, wirken sie sich doch auf sehr unterschiedliche Arten aus. Die Selbstzensur wirkt hierbei direkt auf die Inhalte. Durch das Vermeiden eigener kritischer Äußerungen sowie das Melden oder Löschen fremder Meinungen werden diese Inhalte der Gesellschaft gänzlich vorenthalten. Die technische Filterung hingegen verhindert nur den Zugriff auf Inhalte, sie wirkt also gegen mögliche Akteure. Durch diese Zugriffssperrung wird zwar die Konfrontation der Bürger mit möglicherweise sensiblen Inhalten verhindert, jedoch kann durch sie die Mechanik der Selbstzensur nicht mehr wirken: gesperrte Inhalte werden nicht gelöscht. Dieses Phänomen hinterlässt ein bemerkenswertes Bild in den Quelldaten: In direkter Folge der Sperrung der chinesischen Wikipedia in der Volksrepublik China zum Jahreswechsel 2014/2015 findet sich plötzlich eine Menge an Bildern, von denen viele in die Kategorie sensibler Inhalt fallen würden. Erst durch die Änderung der Nutzerbasis, hervorgerufen durch das Sperren des Zugangs innerhalb der VRC, wurden nun auch KPC kritische Bilder wieder Teil der untersuchten Artikel. Die Sperrung der Wikipedia führte also für Nutzer außerhalb der VRC zu einer potentiellen Verbesserung der Artikelqualität.

Doch auch auch im kleineren Maßstab lässt sich dieses Phänomen beobachten und auswerten. Offenkundig sensible Artikel, wie jener über die verbotene Demokratische Partei Chinas, bleiben über Jahre unzensiert, da sie den potentiellen Zensoren vorenthalten wurden. Im Falle der Aufstände in Xinjian im Juli 2009 konnte wohl nur wegen einer umfassenden Internetsperrung über 14 Tage ein Symbol der Unabhängigkeit im Artikel zur Autonomen Region Xinjian bestehen bleiben - während ein Jahr zuvor die wiederholten Versuche, Ähnliches im Artikel zur Autonomen Region Tibet zu veröffentlichen, an einer fast umgehenden Löschung scheiterten.

An den Beispielen Xinjian und Tibet zeigt sich weiterhin, dass wir die Wikipedia nicht ausschließlich als retrospektives System verstehen sollten, sondern als selbstverständlicher Teil des Tagesgeschehen einer sich zunehmend digitalisierenden Welt. Ihre Artikel sind somit nicht nur geeignet, die Darstellung des Vergangenen zu untersuchen, sondern sie sollten auch als potentielle Zeitzeugen in Betracht gezogen werden. Folglich mag es durchaus von Interesse sein, zukünftig die Genese aktueller Artikel, wie jene zu den Hongkong-Protesten 2019/2020 oder zur Coronavirus-Epidemie 2019/2020, zu Untersuchen.

Ausblick

Dem Methodenfokus des Projekts folgend, soll sich auch der Ausblick insbesondere auf den methodischen Bereich konzentrieren. Die technische wie quellenkundliche Einschränkung auf Bilder ist für diese Untersuchung schon aus arbeitsökonomischen Gesichtspunkten zentral, jedoch könnten künftige Untersuchungen von einer breiteren Herangehensweise profitieren. Insbesondere die Analyse der User in Form einer Akteursanalyse könnte tiefgreifende Einblicke in die Strukturen und die Reichweite etwaiger Zensoren ermöglichen. Weiterhin würden zukünftige Untersuchungen natürlich von einer noch breiter aufgestellten Datenbasis profitieren. Insbesondere die Untersuchung von Artikeln zu einzelnen Dissidenten sowie komplexen Themen wie der Taiwan-Problematik scheinen hier erfolgversprechend. Eine solche Verbreiterung würde dabei von einer performanteren Implementation der Algorithmen profitieren, wie sie im entsprechenden Kapitel im Dokument Quellenarbeit diskutiert wird. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die hier erarbeiteten Methoden mit geringem Anpassungsaufwand auch auf andere Themengebiete und Fragestellungen übertragen werden können.


  1. Hilfreiche Überblickswerke über die Entwicklung des Internets und der zugehörigen Zensurpraxis in China finden sich bei Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China: Aufbau und Grenzen des chinesischen Kontrollsystems, Wiesbaden 2011; Sowie Goldenstein, Jan: Internetperzeption in der VR China: Entwicklung, Wirkung und Potentiale eines globalen Mediums aus chinesischer Perspektive, Bd. 22, Berlin 2011 (Ostasien - Pazifik: Trierer Studien zu Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur). 

  2. Wikipediaartikel als Quellengegenstand wurden von der Autorin bereits in einem früheren Projekt evaluiert, siehe: Krug, Alexandra: Crowds, sources and manipulation. Begriffshistorische Analysen mittels Wikipedia am Beispiel des Artikels «Populismus» zwischen 2014 und 2017, GitHub, 27.11.2019, https://github.com/krugbuild/crowds-sources-manipulation, Stand: 27.02.2020. 

  3. Zur Auswahl, Aufbereitung und Auswertung der Quellen siehe das Dokument Quellenarbeit

  4. Zum Euphemismus der sozialen Stabilität siehe Shirk, Susan L.: China: Fragile Superpower, New York 2008, S. 52 f. 

  5. Vgl. Noesselt, Nele: Chinesische Politik: Nationale und globale Dimensionen, Baden-Baden 2016, S. 93 f; Zur Zensur von KPC-kritischen Inhalten siehe Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China: Aufbau und Grenzen des chinesischen Kontrollsystems, Wiesbaden 2011, S. 103 f. 

  6. In Anbetracht des anhaltenden Diskurses um eine angemessene Bezeichnung der Studierendenproteste und der Ausschreitungen von 1989 verwendet die Autorin im Folgenden stets den Begriff Tiananmen Zwischenfall, der auch am ehesten dem chinesischen Artikeltitel entspricht. 

  7. Vgl. 六四臨近遭人破壞 天安門毛像被擲燃燒彈, in: Apple Daily 蘋果日報, 13.05.2007. Online: http://hk.apple.nextmedia.com/international/art/20070513/7096562, Stand: 17.02.2020. 

  8. GreatFire Analyzer - zh.wikipedia.org is 100% blocked in China, https://en.greatfire.org/zh.wikipedia.org, Stand: 10.12.2019. 

  9. Vgl. Goldenstein, Jan: Internetperzeption in der VR China: Entwicklung, Wirkung und Potentiale eines globalen Mediums aus chinesischer Perspektive, Bd. 22, Berlin 2011, S. 112-114. 

  10. Vgl. Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China, 102 f. 

  11. Vgl. Goldenstein, Jan: Internetperzeption in der VR China, S. 114-120. 

  12. Vgl. Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China, 102 f. 

  13. Vgl. Tang, Wenfang: Public Opinion and Political Change in China, Stanford 2005, S. 27 f. 

  14. Vgl. Ebd. S. 83. 

  15. Vgl. Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China, S. 102. 

  16. Vgl. Becker, Kim-Björn: Internetzensur in China, S. 103. 

  17. Vgl. Shirk, Susan L.: China, S. 38. 

  18. Zur Unstimmigkeit der Bildverfügbarkeit siehe den Abschnitt Ausblick im Dokument Quellenarbeit

  19. Zur genauen Aufschlüsselung der Zeiträume siehe das Kapitel Zeiträume - Tankman small in der entsprechenden Quellendokumentation

  20. Vgl. Shirk, Susan L.: China, S. 58; Hongyi, Lai: Religions and Chinese Socialism: China’s Religious Policies Since the 1990s, in: Yang, Lijun; Shan, Wei: Governing Society in Contemporary China, Singapore [u.a.] 2017, S. 182 f. 

  21. Vgl. Noesselt, Nele: Chinesische Politik, S. 45 f. 

  22. Für die Auflistung der IP-Adressen und deren Lokalisierung siehe den Absatz Standort der IP-Adressen im der Bildquellenauswertung des Artikels “Tibet”. Zur Verwendung von Proxy-Servern und VPN zur Umgehung von Zensurmaßnahmen siehe Goldenstein, Jan: Internetperzeption in der VR China, S. 113 f. 

  23. Vgl. Noesselt, Nele: Chinesische Politik, S. 46 f.; Zu religiös motivierten separationsbewegungen; Hongyi, Lai: Religions and Chinese Socialism, S. 182. 

  24. Vgl. Drinhausen, Katja: China Unruhen in Xinjiang, Politischer Sonderbericht, Länderberichte China, Hanns-Seidel-Stiftung, München 08.05.2009, Online: https://china.hss.de/fileadmin/user_upload/Projects_HSS/China/171012_Migration/China-HGB_Xinjiang_2009.pdf, Stand: 19.02.2020, S. 1 und 4. 

  25. Siehe Bildquellenauswertung des Artikels “Autonomes Gebiet Xinjian”